Alternative Organisationsmodelle

Digitalisierung, eine sich rasch wandelnde Medienwelt und veränderte Bedürfnisse der Nutzer:innen – nur einige Gründe, warum sich die SRG im Wandel befindet. Im Zuge der Transformation setzen verschiedene Abteilungen auf alternative, agile Arbeitsmodelle. Das multimediale Team Musik bei SRF Kultur und die Abteilung «Données et Archives» bei RTS geben einen Einblick in ihre Arbeitsweise.

«Gemeinsam getroffene Entscheide haben eine höhere Akzeptanz»

Theresa Beyer, Angebotsverantwortliche, und Eva Oertle, Team-Coach im multimedialen Team Musik (MMT Musik) (Bild: SRF/Matthias Willi)

Ihr leitet gemeinsam das multimediale Team Musik bei SRF Kultur. Wie sieht eure Rollenteilung aus?

Eva Oertle: Als Team-Coach bin ich verantwortlich für das Personelle, also dafür, dass unser Team gut zusammenarbeiten kann. Ich bin Vertrauensperson, führe Entwicklungs- und Mitarbeiter:innengespräche und bin für die Einarbeitung von neuen Mitarbeitenden zuständig. Theresa und ich arbeiten aber eng zusammen und tauschen uns regelmässig aus.

Theresa Beyer: Als Angebotsverantwortliche trage ich die publizistische Verantwortung und kümmere mich um das Budget. Ich muss schauen, dass wir unsere Ressourcen so einsetzen, dass wir beim Publikum die grösstmögliche Wirkung erzielen. Zudem bin ich in regel­­mässigem Kontakt mit den Musik-Interessensvertretungen und -Verbänden. Das ist wichtig, denn durch die vielen Konzert­aufzeichnungen und Koproduktionen ist das MMT Musik auch ein Akteur in der Schweizer Musikszene.

Seit Herbst 2022 seid ihr als multimediales Team unterwegs, das agil, interdisziplinär und eigenverantwortlich arbeitet. Wie hat sich der Arbeitsalltag eures Teams verändert?

EO: Unser Arbeitsalltag hat sich nicht grundlegend verändert. Anders als bei anderen multimedialen Teams, die sich komplett neu aufgestellt haben, gibt es in unserem Team eine personelle Kontinuität. Was sich aber verändert hat, ist unser Bewusstsein: Wir haben gemeinsam Regeln für unseren Umgang vereinbart, und wir kommunizieren viel intensiver. Zudem haben wir eine neue Sitzungsstruktur erarbeitet, die das gesamte Team einbindet und dem Feedback mehr Raum gibt.

TB: Das neue Mindset zeigt sich auch in der Planung: Früher haben wir eher überlegt, wie wir unsere linearen Sendungsformate mit Inhalt füllen. Heute fragen wir gemeinsam mit unseren Themen­planer:innen: Was ist das ideale Gefäss für eine Geschichte – vom «Musikmagazin» bis zur «Tagesschau»? Wie schaffen wir publizistische Synergien? Wie können andere MMT an ein Thema andocken?

Ein Ziel der Restrukturierung bei SRF Kultur waren flachere Hierarchien. Wie weit ist euch das gelungen?

TB: Um ein Beispiel zu nennen: In meiner Rolle als Angebots­verantwortliche bin ich neu direkt der Abteilungsleiterin Susanne Wille unterstellt und sehe schon nach wenigen Monaten, dass dieser direkte Draht die Prozesse beschleunigt.

EO: Auch die Teammitglieder tragen mehr Verantwortung. Wir lassen das Team Entscheide fällen oder beziehen es mit ein. Wir sehen, dass gemeinsam getroffene Entscheide eine höhere Akzeptanz haben.

Die Führung verteilt sich neu auf die beiden Rollen «Angebotsverantwortliche» und «Team Coach». Welchen Mehrwert bietet diese Arbeitsweise?

EO: Die geteilte Führung hat den grossen Vorteil, dass wir die Verantwortung teilen und uns als Sparringspartnerinnen gegenseitig beraten. Wir sind vom Charakter her recht verschieden und betrachten viele Probleme auf unterschiedliche Weise. Dadurch finden wir gemeinsam oft bessere Lösungen.

TB: Genau, im Tandem haben wir mehr Antennen. Fragen der Teamdynamik und der Zusammenarbeit bekommen nun mit der Team-Coach-Rolle die nötige Aufmerksamkeit. Was ich zudem sehr schätze: Bei SRF Kultur leben wir alle das gleiche Führungsmodell. Der Austausch mit den anderen Leitungspersonen ist Gold wert.

Welche Herausforderungen bringt das Modell mit sich?

EO: Eine Herausforderung der geteilten Führung ist, dass es vorher mit der Redaktionsleitung nur eine Ansprechperson gab. Nun sind wir zu zweit. Meine Rolle als Team-Coach ist neu und muss sich im Team noch etablieren. Aber je mehr Theresa und ich in unsere Rollen hineinwachsen und die Aufgaben klarer voneinander abgrenzen, desto einfacher wird es auch für unser Team.

TB: Genau, so etwas braucht Zeit. Wir sind kein Start-up, das von Null beginnt. Die alten Strukturen und Gewohnheiten mischen im Alltag schon noch ordentlich mit. Herausfordernd ist auch, dass der Change neben dem Daily Business läuft. Ich bin beeindruckt und dankbar, wie konstruktiv und neugierig unser Team durch diesen Prozess gegangen ist. Das Vertrauen und der Rückhalt, die wir als Leiterinnen spüren, sind unglaublich motivierend.

SRF Kultur setzt auf multimediale Fachteams

Neu gibt es elf multimediale Teams, gebündelt in den vier multimedialen Gruppen «Kultur», «Gesellschaft», «Wissen» und «Fiktion». Diese Gruppen entsprechen den Gattungen und Themenfeldern, die im Rahmen der Strategie «SRF 2024» definiert worden sind. Die multimedialen Fachteams planen und produzieren in ihrem Themengebiet multimedial aus einer Hand für Online, TV und Radio. Es wird noch entschiedener von Themen und Geschichten statt von Sendungen und Sendeplätzen her gedacht.

Die Hierarchiestufe Bereichsleitung wurde abgeschafft. Die Funktion Redaktionsleiter:in wurde in die beiden Funktionen Angebotsverant­wortliche:r und Team-Coach aufgeteilt. Alle, die in der neuen Organisation von SRF Kultur eine Führungsverantwortung tragen, arbeiten gleichzeitig auch im und fürs Programm. Ziel ist es, dass operative Entscheide auf der tiefstmöglichen Ebene durch die Fachverantwortlichen getroffen werden.

«Ich bin unabhängiger und das schätze ich sehr»

Sophie Meyer, Dokumentalistin, und Léonard Bouchet, Leiter der Abteilung «Données et Archives» (D&A) (Bild: RTS/Laurent Bleuze)

Du leitest die Abteilung «Données et Archives» bei RTS, die holakratisch organisiert ist. Was unterscheidet sie von einer konventionell organisierten Abteilung?

Léonard Bouchet: Es gibt viele kleine und grosse Unterschiede. Beispielsweise sind bei uns die Rollen und Verantwortlichkeiten jeder und jedes Einzelnen klar definiert und werden ständig überarbeitet. Die Entscheidungsprozesse sind schnell, transparent und basieren auf dem Konsentprinzip. Auch arbeiten unsere Teams selbstverantwortlich und autonom, und Eigeninitiative wird gefördert.

Inwiefern beeinflusst das holakratische Modell euren Alltag?

Sophie Meyer: Ich habe mehrere Rollen, die in verschiedene Kreise eingegliedert sind. Jeder Kreis hat seine eigenen Prioritäten, Fristen und seinen eigenen Rhythmus. Das bedeutet, dass ich meine täglichen Aufgaben ziemlich strikt organisieren muss. Im herkömmlichen System war meine Planung eher von aussen bestimmt. Meine «mentale Belastung» hat im holakratischen System zwar zugenommen, aber ich bin unabhängiger und das schätze ich sehr.

Welche Vorteile hat diese Arbeitsorganisation für dich als Mitarbeiterin?

SM: In den letzten Jahren haben sich innerhalb von D&A neue Aktivitäten entwickelt, die meiner Meinung nach sehr interessant sind: Wir machen Web-Publishing, einen Archiv-Podcast, organisieren öffentliche Veranstaltungen in Westschweizer Dörfern und vieles mehr. Die Holakratie bot mir die Möglichkeit, mich an diesen Aktivitäten zu beteiligen, ohne stets bei einer Hierarchielinie um Erlaubnis fragen zu müssen. Meine persönliche Motivation reichte aus, um mitzumachen. Dann musste ich mich natürlich beweisen. Eine holakratische Organisation bedeutet nämlich nicht, dass man keine Rechenschaft über seine Ergebnisse ablegen muss.

… und für dich als Leiter der Abteilung?

LB: Ich habe einen sehr guten Überblick über alle Aktivitäten der Abteilung und kann regelmässig überprüfen, ob unsere Ziele und Prioritäten mit unseren Tätigkeiten und laufenden Projekten übereinstimmen. Ausserdem schätze ich die klare Verteilung der Zuständigkeiten und die Gegenkräfte, insbesondere die festen Rollen, die es allen Beteiligten ermöglichen, sich effizient zu äussern und gemeinsam eine passende Lösung zu finden.

Welche Schwierigkeiten bringt das Modell mit sich?

SM: Ich kann hier nur für mich sprechen, nicht für meine Kolleg:innen. Die Organisation in Kreisen führte zu einigen Problemen beim Abwägen der Prioritäten und bei der Kommunikation. Zudem fördert die Holakratie eine gewisse Spezialisierung und bricht mit traditionellen Arbeitsformen. Diese sahen unter anderem vor, dass Aufgaben, die als belastender empfunden werden, unter allen Kolleg:innen aufgeteilt werden. Diese und andere Themen diskutieren wir nun und wir sind dabei, konkrete Anpassungen vorzuschlagen und zum Teil bereits umzusetzen.

LB: Die erste Schwierigkeit besteht darin, dass es viel zu lernen gibt, damit alle die «Spielregeln» verstehen und einhalten können. Es stellt sich auch die Frage, wer welche Verantwortung übernimmt. Das Modell fördert per se das Übernehmen von Verantwortung, aber nicht alle Mitarbeiter:innen wünschen sich das, was eine entsprechende Begleitung erfordert. Und schliesslich schafft ein derart dynamisches Organisationsmodell zwangsläufig Spannungen mit unserem Umfeld, einem Unternehmen, das über andere Gewohnheiten und konventionellere Prozesse verfügt.

Das Holakratie-Modell

Holakratie ist ein dynamisches Organisationsmodell, das die Autonomie, Eigeninitiative und Kreativität jeder und jedes Einzelnen innerhalb des eigenen Verantwortungsbereichs fördert. Das Modell ermöglicht es, sich schnell und einfach an Veränderungen anzupassen – dies durch neuartige Zusammenarbeitsprozesse, die eine effiziente Entscheidungsfindung begünstigen. Die Verantwortung des Managements wird in diesem Modell ganz anders ausgeübt als in Modellen mit herkömmlichen Strukturen, da die Macht klarer verteilt ist und durch klar definierte Rollen eine Art Gegenkraft besteht.